Seit einigen Jahren gehe ich fast täglich spazieren (außer an Tagen, wenn es regnet).
Eigentlich gehe ich immer den selben Weg. Er führt nach ein paar hundert Metern etwa 2 km abseits
von Straßen einen Fahrrad- und Fußweg entlang direkt zum Rhein. Auf diesem Weg gibt es eine
Bahn- und zwei Straßenunterführungen.
Seit mehreren Monaten wohnt unter der einen Brücke ein obdachloser Mann. Sein Alter kann ich
schlecht schätzen, aber ich denke, er wird noch etwas jünger sein als ich. Fast jeden Tag liegt
er dort unter der Brücke, zugedeckt mit einigen Decken und döst vor sich hin. Neben ihm steht sein
Einkaufskorb, gefüllt mit seinen wenigen Habseligkeiten. Er hat ein kleines Taschenradio, was
eigentlich immer läuft, so dass ich es im Vorbeigehen gut hören kann.
Dieser Mann erregt jedesmal, wenn ich an ihm vorbei gehe, meine Aufmerksamkeit. Ich denke
gelegentlich darüber nach, wie ich ihm begegnen könnte, ob ich ihn vielleicht mal ansprechen
sollte. Ich habe das Bedürfnis, ihm etwas zu geben. Aber gleichzeitig möchte ich nichts tun,
was er selbst nicht will und was ihm vielleicht unangenehm sein könnte.
Manchmal bleibt mir der eine oder andere Musiktitel im Ohr, der gerade aus seinem Radio zu
hören ist, wenn ich vorbei gehe. Oft begleitet mich die Melodie dann im Innern auf meinem Weg
runter zum Rhein. Und mit der Zeit habe ich gedacht: Wenn mir eine Musik aus seinem Radio im
Ohr bleibt, ist das ein Geschenk. Ist das ein Geschenk von ihm an mich. Gerade auch deshalb,
weil ich Musik so gern höre. Mir wurde klar, dass ich ihm etwas gebe, wenn ich dieses Geschenk
annehme und wertschätze.
Klar geworden ist mir inzwischen, dass ich ihm auch etwas gebe, wenn ich in ihm ganz einfach
einen Menschen sehe, der wie ich seinen eigenen Weg geht und der sich irgendwann für dieses Leben, was er
führt, entschieden hat. Ein Mann, der ein Leben lebt, was so anders als meines erscheint, aber in
Wirklichkeit weder schlechter noch besser als mein Leben ist. Vielleicht hat er es schwerer als
ich. Vielleicht habe ich es schwerer als er. Wer kann dass schon beurteilen.
Bis jetzt habe ich den Mann nicht angesprochen. Aber anders als früher, da ich den Eindruck hatte, dass er das aus irgendeiner Scham heraus nicht möchte, habe ich mittlerweile das Gefühl, dass es für mich nicht passt. Ob das so bleibt, weiß ich nicht. Wenn ich Menschen häufig begegne, schaue ich fast immer, ob es vielleicht einen Anknüpfungspunkt für Kontakt geben könnte. Bei dem Mann unter der Brücke ist es möglicherweise die Musik. Sein Radio, aus dem fast immer Musik zu hören ist, scheint ihm viel zu bedeuten. Und Musik ist eben auch für mich eine schöne und wichtige Sache. Nun, ich schaue jetzt einfach, wie sich diese fast tägliche Begegnung im Laufe der Zeit möglicherweise noch verändern mag.